Wie feiert man eigentlich Weihnachten, wenn man Tage vorher einen geliebten Menschen verloren hat?
Ich liege bauchlinks auf dem Teppich im Wohnzimmer und hänge über meinem Erdkundebuch. Ich bin 11 Jahre alt, gehe in die 5. Klasse einer Realschule und mache meine Hausaufgaben. Die Uhr muss irgendwas zwischen 17 und 18 Uhr angezeigt haben, genau weiß ich es heute nicht mehr. Auf jeden Fall war meine Mutter noch Arbeiten und wir Kinder alleine zu Hause. Meine Schwester und mein Bruder schauen gerade irgendeine Serie im Fernsehen, als das Telefon klingelt und meine Schwester, die damals 13 war, abhebt.
„Ja“, sagte sie halb fragend, halb verwundert, nachdem sie ihren Namen genannt und ihr Gesprächspartner am anderen Ende wohl eine Frage gestellt hatte.
Von dem Telefonat weiß ich nicht mehr viel. Nur noch, dass meine Schwester sagte „Der Papa liegt im Krankenhaus“ und „es sieht nicht gut aus“ oder so ähnlich.
Ich erinner mich auch nicht, was wir zu meiner Mutter sagten, als sie von der Arbeit nach Hause kam. Nur, dass meine Schwester ihre damals beste Freundin anrief, wir uns ins Auto meiner Tante setzten, welches sie uns für die Zeit ihres Skiurlaubes geliehen hatte, weil wir selbst keines hatten und in die Uniklinik fuhren.
Zwei Tage später, die Uhr muss irgendetwas zwischen 13 und 14 Uhr angezeigt haben, bekamen wir den Anruf. Diesmal war meine Mutter zu Hause. Als sie das mit unserem Vater erfahren hatte, hatte sie sich beurlauben lassen. Meine Mutter brauchte nichts sagen. Wir wussten auch so, was der Anruf zu bedeuten hatte. Sie sagte es trotzdem. Man muss es selbst aussprechen, damit man es für wahr nimmt.
Der 20. Dezember ist der Tag, 4 Tage vor Weihnachten. Und der Tag, an dem mein Vater starb.
Es gibt ein davor und ein danach. Egal an welchem Tag du einen geliebten Menschen verlierst. Egal ob warm oder kalt, hell oder dunkel, Tag oder Nacht. Die Welt um dich herum dreht sich weiter. Aber du bleibst stehen.
In den nächsten Tagen schliefen meine Geschwister und ich alle in einem Zimmer. Wir haben den Weihnachtsbaum geschmückt und Plätzchen gebacken. So wie immer. Nur dass nichts wie immer war.
Meine Eltern lebten seit meinem dritten Lebensjahr getrennt. An Heiligabend gingen wir Mittags immer zu unserem Vater, meist spielten wir etwas und dann machten wir Bescherung. Da unser Opa, der Vater meines Vaters, nicht weit entfernt wohnte, spazierten wir danach mit unserem Vater zum Opa, um dort noch mehr zu spielen und noch mehr Geschenke abzuholen. Wir hatten das irgendwann so abgemacht, damit meine Mutter an Heiligabend in Ruhe alles vorbereiten konnte und ihr nicht 3 Kinder in den Füßen rumtanzten, nur um alle 5 Minuten nach Essen und Geschenken zu fragen.
Im Jahr 2005 gingen wir mit unserer Tante, der Schwester meines Vaters, und unserem Onkel ins Kino. Happy Feet. Ein Kinderfilm über einen kleinen tanzenden Pinguin. Ich weiß nicht, ob ich schon immer Pinguine mochte. Seit diesem Tag sind sie jedenfalls meine Lieblingstiere.
In der Zwischenzeit hatte unsere Mutter alles für den Abend vorbereitet. In der Wohnung mischte sich der Geruch der Tanne unter die köstlichen Essensgerüche, die aus der Küche in die ganze Wohnung geströmt waren. Wir deckten den Tisch und zündeten den Adventskranz und die umstehenden Teelichter an. Eigentlich wie immer. Nur, dass wir an diesem Abend nicht wirklich etwas aßen, sondern schweigend im Esszimmer saßen, bis unsere Mutter wie jdes Jahr das kleine, goldene Glöckchen erklingen ließ, um die Bescherung einzuläuten.
Die Lichterkette am Tannenbaum tauchte unsere Geschenke in trügerisch schönes Licht. Auch die Geschenke unseres Vaters.
Das Nachthemd, mit Winnie Pooh im Pyjama drauf, trage ich heute noch.
Trauer wird nicht weniger schmerzhaft, in dem man Besinnlichkeit draufstreut. Und auch der zehnte gute Wunsch für das neue Jahr bringt nichts, weil für einen Trauernden die Zeit nicht weiter zu gehen scheint.
(Not) the same procedure as every year
Die weihnachtliche Süße der Besinnlichkeit hat einen bitteren Beigeschmackt, wenn sie die Kehle hinabläuft. Der Tod ist jemand, der Anfang Dezember an meine Tür klopft und mich bis Neujahr wie ein Schatten verfolgt. Wir sind sichtbarer als unser Schatten und trotzdem ist er da. Leise und unaufällig begleitet er uns auf Schritt und Tritt und schleicht sich in unsere lächelnden Augen und Münder.
Heute, 13 Jahre später, helfen wir unserer Mutter bei den Vorbereitungen. Bis die Schwester meines Vaters und ihr Mann am späten Nachmittag kommen. Die Nachspeise meiner Tante wird in den Kühlschrank gestellt, mein Onkel öffnet den Wein. Wir essen viel und reden noch mehr. Über Gott und die Welt. Nur ohne Gott. Dafür mit Politik. Über meinen Vater reden wir selten. Der Schatten, der uns in dieser Zeit begleitet, ist in jedem von uns präsent, schleicht durch die Wohnung. Aber auch mit Schatten kann man leben, solange sie nicht zu laut brüllen. Er ist eben nur ein Begleiter. Und nicht wir selbst. Für uns ist es, bis zum Abend, fast ein Tag wie jeder andere auch. Die Rahmenbedingungen sind andere, als sie es wären, würde mein Vater noch leben. Aber das Gefühl, welches wir früher hatten, haben wir uns Stück für Stück zurückerobert. Die Vorfreude, die Zufriedenheit, das Gefühl von Geborgenheit und Zugehörigkeit.
Denn am Ende des Tages ist es wie immer: Wenn meine Mutter das kleine, goldene Glöckchen erklingen lässt, ist die Bescherung eingeläutet.
Das Leben geht weiter. Verändert, aber es geht. Und niemand will, dass seine Liebsten nur wegen des eigenen Todes aufhören, sich zu freuen. Du hast das sehr eindrücklich beschrieben! Ich wünsche dir auf jeden Fall frohe Weihnachten.
LG
Gerry Huster
Danke dir Gerry, dir auch frohe Weihnachten!