Selbstverletztendes Verhalten, kurz SVV, erlebte in den letzten zehn Jahren einen regelrechten Medienrummel. Es wurden viele Vermutungen über die Krankheit angestellt. Und viele davon waren und sind falsch. Ich habe SVV und ich laufe nicht ständig in schwarzen Klamotten rum. Ein Bericht über eine Szenekrankheit, die keine ist.
Der Begriff
Autoaggressives Verhalten oder auch selbstverletzendes Verhalten beschreibt eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, bei denen sich die Betroffenen absichtlich Verletzungen oder Wunden zufügen. Dabei dient der Akt der Selbstverletzung entweder der Selbstbestrafung oder der Absicht sich selbst wieder „zu spüren“. Bei den Betroffenen hat sich, meist über einen längeren Zeitraum, ein hoher emotionaler Druck aufgebaut, weil sie über negative Erlebnisse nicht sprechen wollen oder können oder selbst nicht wissen, wie sie auf emotionaler Ebene mit der Situation umgehen sollen.
SVV kann unteranderem auftreten bei: Borderline-Persönlichkeitsstörung, Depression, Essstörungen, Missbrauchserfahrung, Erfahrung von Traumata, während der Pubertät oder einer Körper-Schema-Störung, bei der die Betroffenen eine äußerst falsche Wahrnehmung des eigenen Körpers haben.
Die Zahlen
Für die wenigsten Menschen mit SVV, liegt hinter ihrem Verhalten eine direkte Absicht Suizid zu begehen. Vielmehr dient es der Regulation von (negativen) Gefühlen. Bei etwa einem Drittel der Betroffenen, ist die Selbstverletzung aber direkt mit einem Suizidversuch verbunden. Etwa 10 Prozent der Betroffenen begehen früher oder später Selbstmord.
Frauen sind etwa fünfmal so oft von SVV betroffen, als Männer. Am häufigsten lässt sich das Verhalten bei elf bis 16-Jährigen finden.
Der Beginn
Aber wo beginnt Selbstverletzung? Ist es das reine „Ritzen“, also das Schneiden in die Extremitäten, mit einem spitzen oder scharfen Gegenstand, etwa einer Rasierklinge? Oder beginnt es vielleicht schon damit, dass du vor Wut so heftig gegen die Wand schlägst, dass deine Fingerknöchel anfangen zu bluten? – Der Unterschied liegt darin, dass jeder von uns einmal den Wunsch verspürt, Teller durch die Gegend zu werfen oder etwas zu tun, um seinen Gefühlen und Aggressionen freien Lauf zu lassen. Vor allem bei extremer emotionaler Anspannung graben viele von uns gern mal die Fingernägel in die Handflächen. Erst wenn dieser Gedanke häufiger auftritt, sollte man sich Gedanken machen, warum man eigentlich aggressiv ist und etwas dagegen tun. Jeder Mensch hat von Geburt an entweder den Hang zur Aggression oder zur Autoaggression. Also anderen wehzutun, oder sich selbst. Trotz dieser Unterscheidung ist es aber so, dass jede Form der Aggression auf ein bestimmtes Gefühl zurückzuführen ist: Dem gesunden Egoisten in uns, der uns sagt, dass ein anderer Mensch uns gerade wehtut. Wenn wir von einem anderen Menschen verletzt werden, sind wir traurig, wütend und werden aggressiv. Sind wir dann also wütend auf jemand anderen? – Nein, wir sind wütend auf uns selbst, weil wir verletzt wurden und uns jemand, auf emotionaler Ebene, wehtut. Wer kennt das nicht, diesen Satz „Mein Gott, mich sollte das nicht die Bohne interessieren. Mich regt es richtig auf, dass es mich überhaupt aufregt!“ Klingt dämlich, passiert aber häufiger als man denkt. Erst wenn es so weit kommt, dass unsere Seele zu viele (unausgesprochene!) Dinge verarbeiten muss, egal ob sie einen Menschen in unserem Umfeld oder die Gedanken über uns selbst betreffen, kommt die Aggression oder Autoaggression ans Licht. Wir wissen nicht, wie wir mit einer Situation umgehen sollen, geraten deshalb unter Druck, setzen uns selbst unter Druck, weil wir endlich eine Lösung finden „müssen“ und schon ist es passiert.
Der Verlauf
Vor allem hochsensible Menschen neigen dazu, sich selbst zu verletzen. Hochsensibel heißt nicht, dass man bei jedem Drama im Kino Rotz und Wasser heult. Hochsensibilität ist anstrengend und ein Geschenk zugleich. Betroffene nehmen ihre Umwelt intensiver wahr, als Menschen ohne hohe Sensibilität. Unser Gehirn filtert von Natur aus unwichtige Dinge heraus. Das ist wichtig, um eine Reizüberflutung zu vermeiden. Bei hochsensiblen Menschen ist dieser Filter grober. Es fällt ihnen schwer zu unterscheiden, ob beispielsweise eine gewisse Tonlage oder Mimik eines Menschen ihnen galt oder die Person, gerade über etwas ganz anderes nachdenkt. Häufig betreten hochsensible einen Raum und nehmen, falls vorhanden, negative Gefühlsregungen zwischen den Menschen wahr, ohne auch nur mit einer Person gesprochen zu haben. Die Kunst besteht darin, die Gefühlsregungen der Anderen nicht auf sich zu beziehen. Aber genau das ist für viele Betroffene ein langer Lernprozess, bei dem es häufiger passieren kann, dass sie nicht wissen, wie sie mit einer Situation umgehen sollen. Es fällt ihnen schwer zu unterscheiden, ob diese Gefühle, die sie verspüren, ihre eigenen sind oder sie diese von einem ihrer Mitmenschen übernommen haben. Dabei sind tiefe Schnitte an den Armen und Beinen nur der Höhepunkt. Das Ritzen oder Schneiden ist ein klarer Fall von Selbstverletzung, der in den aller meisten Fällen therapeutisch behandelt werden muss. Aber auch nicht den Mut aufbringen zu können, Personen zu verlassen, die einen auf Dauer emotional oder sogar körperlich verletzen, grenzt stark an Selbstverletzung. Es muss nicht immer direkt das Verbrennen mit Zigaretten oder das Schneiden in die Haut sein. Wenn man solche Verletzungen dennoch bei einem Freund oder einer Freundin entdeckt, ist der richtige Umgang mit den Betroffenen wichtig.
Der richtige Umgang mit Betroffenen
Egal wie alt der oder die Betroffene ist, es ist wichtig ihn und sein Verhalten von Anfang an ernst zu nehmen. Selbstverletzendes Verhalten ist keine Phase der Pubertät, sondern eine Krankheit. Und entgegen der Meinung vieler Angehöriger, kann auch diese Krankheit sich zu einer Sucht entwickeln. Denn während der Selbstverletzung schüttet der Körper „Glückshormone“, sogenannte Endorphine aus. Die Endorphine sorgen zunächst für eine Schmerzunterdrückung. Was der Grund dafür ist, dass viele „SVV-ler“, mit nein antworten, wenn sie gefragt werden, ob das weh tut. Aber bitte nicht falsch verstehen. Das Schneiden tut weh, was viele vergessen ist, dass das aber genau der Sinn der Sache ist. Das Gehirn braucht einige Minuten, bis sich die Endorphine im Körper ausgebreitet haben. Bis dahin tut jeder Schnitt weh, aber eben nur bis dahin. Und genau diese süßen Endorphine sind es, die das selbstverletzende Verhalten zu einer Suchtkrankheit machen, auch wenn sie im klassischen Sinne nicht als Suchtkrankheit bezeichnet wird. Nimm die Krankheit also wirklich ernst und sprich mit Freunden oder Familie darüber, wie du oder ihr dem Betroffenen helfen möchtet. Auf keinen Fall sollte der oder die Betroffene dazu gezwungen werden, darüber zu sprechen, oder spitze Gegenstände abzugeben. Wenn den Betroffenen heute die Rasierklinge weggenommen wird, finden sie morgen eine neue. Außerdem sollte der Person niemals ein schlechtes Gewissen gemacht werden. Das haben die Meisten so oder so schon, es sollte durch Wut seiner Mitmensch also nicht noch verstärkt werden. Macht der Person dennoch klar, dass ihr sie und ihr Verhalten im Blick habt. Ein klares Anzeichen, für eine „Eskalation“ des Verhaltens, ist das Schneiden auf der Innenseite der Arme (wegen der extremen Nähe zu den Pulsadern) oder extrem tiefe Schnitte. So oder so, sollte man der Person klar machen, dass die richtige Versorgung der Wunden extrem wichtig ist. Wund- und Brandsalbe und Verbände sollten immer im Haus sein. Wenn es zu heftig wird und auch kein Verband mehr hilft, sollte man den Betroffenen zum Arzt begleiten, damit die Wunde genäht werden kann. Spätestens der Arzt sollte dazu in der Lage sein, den oder die Betroffene zumindest dazu anzuregen, darüber nachzudenken, ob er oder sie sich Hilfe holt. Aber auch zu einer Therapie sollte die Person nicht gezwungen werden. Eine Therapie bringt nur dann etwas, wenn die Person selbst der Meinung ist eine solche zu brauchen. Und auch wenn es manchmal schwer fällt, sollte man der Person immer zuhören, wenn man merkt, dass sie bereit ist darüber zu sprechen.
Der Umgang als Angehörige
Der richtige Umgang als Angehörige eines SVV-lers ist, wie bei jeder Suchterkrankung, nicht einfach. Dabei sollte man sich immer klar machen, dass man selbst keine Schuld an dem Verhalten des Betroffenen hat, auch nicht der oder die Betroffene selbst. Es liegt nicht an einer einzigen Person, die das Fass zum Überlaufen bringt. Es sind viel mehr viele kleinere (oder große) negative Situationen, mit denen der oder die Betroffene nicht umzugehen weiß. Als Angehörige sollte man sich dennoch über die Krankheit informieren. Im Internet können etliche Foren weiterhelfen, aber auch der Gang zum Hausarzt kann helfen. Auch gibt es Therapeuten, die auf die Therapie von Menschen mit selbstverletzendem Verhalten spezialisiert sind. Eine sogenannte Verhaltenstherapie, hilft den Betroffenen die Situationen zu analysieren, in denen sie den Drang verspüren sich zu schneiden und zeigen Möglichkeiten auf, wie sie stattdessen mit der Situation umgehen können. Wenn die Person noch nicht für eine Therapie bereit ist, kann man ihr sogenannte „Skills“ vor Augen führen. Skills (zu englisch Fähigkeiten), beschreiben eine Reihe von Dingen, die der oder die Betroffene tut, wenn sie sich schneiden möchte. Bei selbstverletzendem Verhalten geht es darum, seelischen Druck durch äußerlich zugefügten Schmerz zu überdecken. (Ich schreibe bewusst „überdecken“. Das Schneiden lässt den seelischen Schmerz nicht verschwinden, sondern überlagert diesen Schmerz mit einem Anderen). Eine einfache Ablenkung durch einen Spaziergang oder ähnliches hilft also nur selten, weil dabei der herbeigefügte Schmerz fehlt. Anstatt sich zu schneiden, kann die betroffene Person ihre Hände in sehr kaltes Wasser legen, sich pitschen, oder auf eine Pepperoni oder Zitrone beißen. Das klingt für viele Angehörige absurd, weil der gesunde Menschenverstand ihnen sagt, dass das Ziel ein ganz anderes ist. Nämlich die Person davon weg zu bringen, überhaupt den Drang zu verspüren, sich selbst zu verletzen. Dabei weiß jede ehemalige Raucherin, wie schwer es ist aufzuhören und wie lange es oft dauert, bis das Verlangen nach einer Zigarette nicht mehr auftritt. Betroffene und angehörige Personen, sollten sich klar machen, dass es nie richtig vorbei ist, auch wenn die Peson über Jahre „trocken“ ist. Rückfälle sind jeder Zeit möglich, dafür sollte man sich selbst oder die Person nicht bestrafen, sondern es so hinnehmen und drüber reden. Je höher die Wut der Mitmensch auf das Verhalten, desto höher ist der Druck auf die betroffene Person und desto höher ist das Risiko eines Rückfalls.
So oder so: Die Narben werden bleiben. Es ist wichtig diese zu akzeptieren und als Teil seiner selbst anzusehen. Jede Narbe erzählt eine Geschichte, auch solche die du dir selbst zugefügt hast. Die Narben sind ein Teil der Geschichte des Betroffenen, eine Geschichte, in die er die Macht hat, diese zu ändern.